Im Dienste der Gehörlosen - egal woher sie kommen

Gruppenbild mit gehörlosen, ukrainischen Vertriebenen bei WITAF
© WITAF

Seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine haben sich rund 200 geflüchtete Gehörlose an unsere Mitgliedsorganisation WITAF gewandt. Innerhalb von wenigen Tagen wurde ein breites Unterstützungsnetzwerks aufgebaut.

Im Interview mit dabei-austria erzählen Eva Theresa Böhm, eine der beiden WITAF-Geschäftsführerinnen und Natascha Zickbauer von der WITAF-Arbeitswelt, wie es gehörlosen Menschen auf der Flucht ergeht, welche Herausforderungen es in der Beratung, Verständigung und Versorgung gibt - und wie offen sich Bildungssysteme und der Arbeitsmarkt für Gehörlose in Österreich insgesamt gestalten.

Portraitfotos von Eva Theresa Böhm und Natascha Zickbauer
Eva Theresa Böhm und Natascha Zickbauer, © WITAF

Gehörlos und geflüchtet

dabei-austria: Wie ergeht es gehörlosen Menschen auf der Flucht?

Eva Theresa Böhm: Rein physisch gesehen, ist die Flucht für gehörlose Menschen leichter als für mobilitätseingeschränkte Menschen. Gehörlose Flüchtlinge, die in Wien angekommen sind, haben vor Ort jedoch keine Gebärdensprachdolmetscher, die in ihrer Erstsprache - der ukrainischen Gebärdensprache - kommunizieren. So wie bei in Österreich lebenden gehörlosen Personen, ist die Lautsprache aber die erste Fremdsprache, die Gehörlose erlernen. Daher kommt es aufgrund eines Informationsdefizits zu einer psychischen Mehrfachbelastung.

dabei-austria: Ihren Angaben nach befanden sich im März rund 130 gehörlose ukrainische Flüchtlinge in Wien. Wie hat sich diese Zahl seitdem entwickelt?

Eva Theresa Böhm: Generell gibt es zum Thema „Flucht und Behinderung“ keine konkrete Statistik. Eine Besonderheit ist, dass gehörlose Vertriebene direkt bei Gehörlosenorganisationen andocken und wir dadurch einen ungefähren Überblick haben. In Wien hat die Zahl stark geschwankt und pendelt sich momentan auf ungefähr 120 Gehörlose ein. Es gab Spitzen von 180 bis 200 - viele waren aber nur kurz in Wien und sind dann in andere Bundesländer oder europäische Länder weitergereist.

Verständigung und Versorgung

dabei-austria: Welche Unterstützung gibt es von Seiten WITAF für gehörlose Menschen, die aus der Ukraine ankommen?

Eva Theresa Böhm: Wir haben die Koordinierung von Dolmetscher:innen im Erstaufnahmezentrum, bei Arzt- oder Amtsbesuchen übernommen. Besonders hervorheben will ich die Rolle von Florian Gravogl, unserem Flüchtlingskoordinator, der rasch Arbeitsgruppen im Bereich Spenden, Essensversorgung, Bildung, Gesundheit, Dolmetschen, Information für Erstankömmlinge bis hin zur Versorgung für psychologische Notfälle gebildet hat.  Florian Gravogl und sein Team haben Enormes geleistet - beispielsweise auch die Produktion von Gebärdensprachvideos in International Sign. Für sein Engagement wurde er am Diversity Ball mit dem „Lovemore Award“ ausgezeichnet.

dabei-austria: Wie funktioniert eigentlich die Übersetzung von Ukrainischer in Österreichische Gebärdensprache und umgekehrt?

Eva Theresa Böhm: Wichtig zu wissen ist, dass nicht von der Gebärden- in die Lautsprache übersetzt wird, sondern von der ukrainischen Gebärdensprache in International Sign und von International Sign in die deutsche Lautsprache. Aufgrund von unterschiedlichen Vorbildungen, den Sprachniveaus der Gehörlosen und Dolmetscher:innen kommt es zu einem längeren Übersetzungsprozess. Was es braucht sind Zeit und Vertrauen. Ein Hilfsmittel, das wir auch nutzen, ist der Google-Translator, denn generell gibt es wenig taube Gebärdensprachdolmetscherinnen, sogenannte „Native-Signer“, die eine Gebärdensprach-Ausbildung haben und den Sprung von ukrainischer Gebärdensprache in International Sign dolmetschen können.

dabei-austria: Wo liegen derzeit die größten Herausforderungen?

Eva Theresa Böhm: Obwohl Monate vergangen sind, stellt sich die Finanzierung der Dolmetsch-Kosten als große Herausforderung dar. Wir haben von Anfang an die Zusage bekommen, dass Gebärdensprachdolmetscher finanziert werden. Doch die vielen Dolmetscher:innen wissen nicht, ob sie ihre Leistung auch tatsächlich honoriert bekommen. Wir setzen uns daher dafür ein, dass Dolmetsch-Termine im Zuge der Grundversorgung bezahlt werden.

Ankommen in Bildungseinrichtungen

dabei-austria: Wie werden gehörlose Kinder und Jugendliche, die in Wien angekommen sind, ins Bildungssystem integriert? 

Eva Theresa Böhm: Abhängig vom Alter der Kinder und Gebärdensprachkenntnissen werden die Kinder und Jugendlichen in Klassen eingegliedert.  Das Bundesinstitut für Gehörlose im 13. Wiener Gemeindebezirk ist ein wichtiger Anknüpfungspunkt. Dort gibt es einen Kindergarten, eine Volks- und Mittelschule. Die Schule hat auch Exposituren, etwa in der Pfeilgasse, einer bilingualen Schule mit gehörlosen Lehrer:innen. Dort arbeitet Sandra Schügerl, eine taube Gebärdensprachdolmetscherin, die auch International Sign beherrscht. Zwei gehörlose Lehrer:innen und eine ukrainische Pädagogin haben in einer Schule beispielsweise eine Förderklasse übernommen. Dort werden Kinder in zwei Gebärdensprachen unterrichtet. Ziel ist es auch Deutsch zu lernen – das wäre die dritte Sprache. In der Karajangasse gibt es den Vorteil, dass gehörlose und gebärdensprachkompetente Jugendliche bereits in den Klassen sind. Es war daher möglich, die Jugendlichen in der Klasse dazubuchen, ohne eine zusätzliche Finanzierung für Dolmetsch-Leistungen aufstellen zu müssen.

Insgesamt haben wir knapp 20 Kinder und Jugendliche von Kindergarten bis zum Gymnasium unterbracht. Wir erreichen aber momentan ausschließlich Kinder mit gehörlosen Eltern, nicht aber gehörlose Kinder mit hörenden Eltern. Statistiken zeigen, dass 90 Prozent der gehörlosen Kinder hörende Eltern haben. Es ist uns daher wichtig, auch diese Zielgruppe zu erreichen.

dabei-austria: Wie funktioniert die Verständigung im Unterricht?

Eva Theresa Böhm: Die Kinder haben eine sehr hohe Gebärdensprachkompetenz. Für mich war das erstaunlich, weil es in Österreich nicht selbstverständlich ist, dass gehörlose Kinder die Gebärdensprache gut beherrschen. Die Schüler:innen, die ich getroffen habe, sind unglaublich wissbegierig. Sie setzen sich an ihr Handy oder Tablet, übersetzen sich Schulaufgaben und versuchen auf Deutsch oder Englisch zu antworten. Die Lehrerinnen haben aber keine Ressourcen, den Kindern im normalen Regelunterricht Deutsch zu lernen. Deswegen stellen wir einen Antrag, um in den Sommerferien Deutschkurse anbieten zu können. Meine Traumvorstellung wäre, dass das nicht nur ein Programm wäre für ukrainische Gehörlose, sondern für alle Gehörlosen - egal woher sie kommen.  Das verstärkt den Gedanken der Inklusion und hilft auch österreichischen Gehörlosen, die sich in der deutschen Schriftsprache schwertun.

Ankommen in der Arbeitswelt

Der Bereich Arbeitswelt umfasst bei WITAF Jugendcoaching, Jobcoaching und Arbeitsassistenz sowie Technische Assistenz in Wien und Niederösterreich. Jobcoaching und Arbeitsassistenz werden auch in Niederösterreich angeboten. Gehörlose und hochgradig schwerhörige Personen werden von WITAF im Rahmen der NEBA-Maßnahmen auf der Suche nach Lehrstellen, nachhaltigen Arbeitsplätzen und bei der Arbeitsadaption mit Hilfsmitteln unterstützt.

dabei-austria: Welche demografischen Daten gibt es zu gehörlosen Menschen, die aus der Ukraine angekommen sind? 

Natascha Zickbauer: Bei uns in der Arbeitsassistenz docken Menschen im klassischen Berufsalter an, viele sind zwischen 30 bis 50. Es kommen vor allem Familien – auch Männer, weil gehörlose Männer in der Ukraine vom Militärdienst befreit sind.

dabei-austria:  Welcher beruflichen Tätigkeit sind diese Menschen in der Ukraine nachgegangen?

Natascha Zickbauer: Wir beraten derzeit 50 Menschen in der Arbeitswelt, die alle vorher im Berufsleben standen. In der Ukraine, wie auch in Österreich, haben Gehörlose oft klassische Berufe, im Sinne von - Frauen sind als gehörlose Schneiderinnen oder im Reinigungsbereich tätig. Gehörlose Männer werden im handwerklichen Bereich ausgebildet – wie beispielsweise als Tischler, Maurer, Schlosser, Mechaniker, etc. Spannend finde ich, dass es in der Ukraine Ausbildungen zum gehörlosen Schwimm- und Tennislehrer gibt. Wir haben beispielsweise drei gehörlose zertifizierte Schwimmlehrer in der Beratung.

dabei-austria: Wie offen ist der österreichische Arbeitsmarkt für gehörlose Menschen aus der Ukraine? Und welche Erfahrungen konnten Sie aus der bisherigen Beratung mitnehmen?

Natascha Zickbauer: Ein großes Thema in der beruflichen Beratung ist, dass diese Menschen aus einem anderen Sozialsystem kommen. In der Ukraine bekommen Menschen mit Behinderungen eine Art Sozialhilfe, die als Pensionszuschuss betitelt ist und monatlich umgerechnet 132 € beträgt. Nun sind sie mit einem anderen Sozialsystem konfrontiert.

Positiv ist, dass laut Sozialministeriumservice gehörlose Menschen schnell in NEBA-Projekten aufgenommen werden können. Es fehlen jedoch für unsere Zielgruppe die klassischen Instrumente der beruflichen Integration. Derzeit werden kaum noch Eingliederungsbeihilfen für ukrainische gehörlose Menschen bewilligt. Auch die Beratungssituation ist für unsere Arbeitsassistent:innen nicht einfach. Wir haben aber die Möglichkeit, vom Sozialministeriumservice taube Dolmetscher für Erstgespräche zuzuziehen, um überhaupt einen Lebenslauf gestalten zu können. Es gibt aber auch erste Erfolge in der beruflichen Integration: Es freut uns sehr, dass eine gehörlose Pädagogin in einer Schule anfangen kann. In Krems kann ein gehörloser KFZ-Mechaniker bei einem Unternehmen starten. Gleichzeitig braucht es Jobcoaching vor Ort, um diesen Prozess gut begleiten zu können.

Ein weiteres Thema, mit dem wir in der Beratung konfrontiert sind, ist: „Bleibe ich oder nicht?“ - also der Blick in eine ungewisse Zukunft. Viele wollen jetzt arbeiten, sich selbst versorgen und sinnvoll tätig sein, anstatt abzuwarten. Gleichzeitig fragen sie sich, wie ihre Zukunft in der Ukraine aussieht. Die Herausforderungen und die Intensität in der Beratung kann man mit früheren Situationen nicht vergleichen.

dabei-austria: Wie ist es generell um Jobchancen von gehörlosen Menschen bestellt?

Natascha Zickbauer: Viele gehörlose Menschen haben keine höhere Berufsausbildung.  Neben den bereits genannten handwerklichen Berufen arbeiten einige auch im Hilfsarbeiterbereich, der sich aber durch die Digitalisierung gerade massiv verändert. Für schlechter ausgebildete Menschen ist das ein schwieriges Szenario und nicht immer funktionieren Schulungen. Es gibt nur eine Handvoll Gehörlose mit akademischem Abschluss. Bis sich das ändert, wird es noch Generationen dauern, denn es braucht Veränderungen im Bildungssystem und das verändert sich nur sehr langsam.

Zu sehen ein Beratungssetting bei WITAF
Beratung bei WITAF, © WITAF

Ein Blick nach innen

dabei-austria: Welche Unterstützung erhält der WITAF eigentlich für sein Engagement?

Eva Theresa Böhm: Die tauben Gebärdensprachdolmetscher:innen in den Arbeitsassistenz-Projekten werden bezahlt. In Bezug auf andere Dolmetsch-Leistungen im Bereich Flüchtlingsarbeit sind wir am Verhandeln. In einer Krise sieht man Stärken und Schwächen. Man sieht die Schwächen im Bildungssystem für Gehörlose, die vom Kindergarten bis zur Matura und darüber hinaus bestehen. Es hat sich viel getan, aber man sieht, dass die über Jahrzehnte gelebte Bildungsdiskriminierung immer noch besteht. Werden dann noch zusätzliche Ressourcen gebraucht, stößt das System an seine Grenzen.

dabei-austria: Wie geht es Ihnen und Ihrem Team nach dem monatelangen Einsatz?

Eva Theresa Böhm: Wir sind ein traditioneller Gehörlosenverband, der von Projekt- und Fördergeldern lebt, aber keine übermäßig großen Ressourcen hat. Es sind viele Dinge liegen geblieben oder mussten kurzfristig reduziert werden. Es wurden viele Überstunden und ehrenamtliches Engagement geleistet. Dem WITAF ist es aber gut gelungen, Strukturen zu schaffen und eine Logistik auf die Beine zu stellen. Bei künftigen Krisen müssen wir also nicht mehr bei null anfangen. Wenn es Strukturen gibt, hängt zukünftig nicht alles an einzelnen Personen, die über ihre Grenzen gehen müssen.

Ich arbeite seit über 20 Jahren in diesem Bereich und muss sagen: das Commitment, das Gehörlose für Gehörlose - egal woher sie kommen - haben, das kenne ich aus nur ganz wenigen sozialen Kontexten. Die Identifikation: wir haben die gleiche Behinderung, die gleiche Gehörlosenkultur, obwohl wir aus einem anderen Land kommen - ist für mich einzigartig im Kontext Flucht und Behinderung,

Ein Blick in die Zukunft

dabei-austria: Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Natascha Zickbauer: Ein großer Wunsch ist, dass die psychosoziale Versorgung ausgebaut wird – und das völlig unabhängig davon, ob die ukrainischen Verfolgten bleiben oder nicht. Weiters wünsche ich mir, dass der Bildungsbereich noch inklusiver wird, dass der Einsatz von Dolmetschern finanziert und unkomplizierter wird.

Eva Theresa Böhm: Solange Kindergartenkinder hierzulande, die die österreichische Gebärdensprache brauchen auf Wartelisten stehen, kann man nicht davon ausgehen, dass es genug Plätze für ukrainische gehörlose Kinder gibt. Es zeigt sich, dass es zu wenig Personal gibt, das die Gebärdensprache gut beherrscht. Ich würde mir wünschen, dass diese Weckrufe genutzt werden, um die bisherigen Strukturen zu verändern. Wenn ich von Stelle zu Stelle gereicht werde, kostet das viel Zeit und Geld. Ressourcenorientierter, unbürokratischer und kostengünstiger arbeiten zu können, wäre mein Wunsch in vielen Bereichen.

Seit 1865 im Dienste der Gehörlosen: Alle Infos über WITAF unter www.witaf.at